Interview mit Verena Wiegand
Du bist Künstler, Oliver, Pianist, und dennoch siehst du dich als ganz normalen Zeitgenossen, wie du sagst...
OLIVER SCHNYDER: Ja, dem Pianisten-Klischee des wild sich in die Tasten stürzenden Irren entspreche ich wohl kaum. Kein Chaos, nirgends! Das hat damit zu tun, dass ich als nachschaffender Künstler hinter das Werk eines andern zurücktrete. Ich filtere, transportiere, setze um. Ich als Person bin da erst in zweiter Linie relevant und brauche deshalb auch nicht dem Image des aufbrausenden Genies zu entsprechen. Zwar kann ich gut Klavier spielen, habe eine schwer zu bändigende Beethoven-Struwwelmähne, bin manchmal launisch, Linkshänder, immer ein Morgenmuffel, trotzdem erlebe ich mich als ganz normalen Bürger, der allerdings gewisse Sensibilitäten mitgebracht und ausgebildet hat, die es ihm nicht nur erlauben, auf den Grund eines Kunstwerks vorzustoßen, sondern ganz allgemein Schwingungen wahrzunehmen, Atmosphäre zu empfinden. Und ich habe ein ausgeprägtes ästhetisches Empfinden, Sinn fürs Schöne halt.
Also doch kein ganz normaler Zeitgenosse. Was ist denn schön?
OLIVER SCHNYDER: Sehr allgemein gesprochen ist Schönes formvollendet. Inhalt, Form und Wirkung wachsen eins aus dem andern. Alle Proportionen stimmen. Ja, dass die Proportionen für unser Empfinden stimmen, ist vielleicht der einzige gemeinsame Nenner alles Schönen im platonischen Sinne. In der Musik - bei Mozart, Schubert, Beethoven oder Brahms etwa - gibt es dieses absolut Schöne. Auf dem Papier wenigstens, in der Partitur. Die Umsetzung dieser Partitur, die Interpretation, wird aber unvollkommen bleiben, da sie bloß eine Annäherung ist.
Das klingt für mich, als sei Schönheit für dich etwas Absolutes, als sei sie nicht nur erklärbar, sondern auch messbar.
OLIVER SCHNYDER: Nein, ist sie natürlich nicht. Es gibt im Gegensatz zum gerade Gesagten auch die kantische Betrachtung von Schönheit, die sich über die Subjektivität des Betrachters oder Zuhörers definiert. Schönheit begegnet einem nicht einfach so sie muss gesucht werden. Darin fällt mir auf: Ich werde immer verletzlicher fürs Schöne. Ja, Schönheit verletzt! Schönheit läutert aber auch. «Go for beauty!» forderte Leon Fleisher uns Studierende oft auf, wenn wir uns allzu sehr in ein musikalisch-interpretatorisches Problem verstrickt hatten. Nicht, dass er unser Spiel auf bloßen Schönklang trimmen wollte, nein, vielmehr befreite er uns mit seiner Anweisung vom Druck, beweisen zu müssen, wie sehr wir uns mit der Partitur auseinandergesetzt hatten. «Go for beauty!», und wir mussten nicht mehr zeigen, wie stark uns die Musik bewegte - was fürchterlich von der Musik ablenkt -, sondern «gingen» dorthin, wo Schönheit läuternd zu wirken beginnt, dorthin, wo das Ich sich auflöst und verschmilzt mit etwas Universalem. So hat Schönheit für mich manchmal doch etwas Absolutes: Ella Fitzgeralds Stimme zum Beispiel, die Violine Fritz Kreislers oder Dinu Lipattis Klavier, die haben für mich keine Erdenschwere mehr...
Wie findest du zu deiner Interpretation?
OLIVER SCHNYDER: Vom ersten Lesen eines Texts den Weg zu finden bis zu der für mich stimmigen Interpretation und diesen Weg dann zu gehen, ist neben der täglichen Pflege meiner Technik und dem üben tatsächlich der wichtigste Teil meiner Arbeit. Bei dieser spannenden, manchmal auch schmerzhaften Suche benütze ich das Instrumentarium, das ich mir im Lauf der Zeit erarbeitet habe:
> mein musiktheoretisches Wissen
> mein musikhistorisches Wissen über Stilmittel der Zeit
> Aussagen des Komponisten sowie dessen weitere Werke
> technische Möglichkeiten der Zeit
> Hinweise auf den kulturellen und gesellschaftlichen Hintergrund
> Zeitkritiken
> mein Stilempfinden natürlich, beziehungsweise meine Stilsicherheit - wohl das, was man «Geschmack» nennt
> sowie meinen gesunden Menschenverstand, der es mir ermöglicht, auch zwischen den Zeilen zu lesen. Und dann vor allem mein Nachhorchen!
Nachhorchen ist das Eigentliche für mich beim Erarbeiten einer Interpretation. Nachhorchen ist auch das Einzige, was mir bleibt, wenn mir Wissen, Stilempfinden und Verstand nicht mehr weiterhelfen bei meiner Annäherung an den Komponisten. Dann richte ich mein inneres Ohr auf das Nachklingen dessen, was meine Finger noch gar nicht gespielt haben. Das klingt paradox, aber es funktioniert. Der musikalische Impuls entsteht in meinem inneren Ohr und springt auf meinen Körper über, was heißt auf meine Arme, Hände, Finger, mit dem Befehl, das so Gehörte für andere hörbar zu machen. üben am Klavier ist übrigens nichts anderes, als diese Verbindung zwischen innerem Hören und physischer Umsetzung zu trainieren, das heißt, das adäquate Mittel zu finden, das Vorausgehörte auf dem Instrument zu realisieren.
Dann bist du technisch also so gut, dass du herstellen kannst, was du innerlich hörst?
OLIVER SCHNYDER: Ja. Allerdings trage ich einzelne Passagen eines Stücks manchmal lange mit mir herum, bis mir einfällt, wie ich auf dem Klavier genau den Klang erziele, den ich in meinem Ohr habe.
Die Aufgabe des Interpreten sei es, den Komponisten zu unterstützen, sagst du. Was meinst du mit «support the composer»?
OLIVER SCHNYDER: Dieser Fleisher-Ausspruch, «support the composer», bringt vieles auf den Punkt.
Er bedeutet: «Play it late, but in time; long note long, short note short». Damit beschreibt Fleisher in einem kurzen Satz ein musikalisches Naturprinzip. Wer dieses Prinzip nach oft quälender Auseinandersetzung wirklich begreift, trägt die Keimzelle für eine packende Musik in sich, für eine Musik, die rhythmisch und deklamatorisch Sinn macht. «Support the composer» zwingt das Ohr, jede Note genaustens vorauszuhören, um sie dann auch richtig zu platzieren. Richtig platziert ist schon halb gewonnen! Habe ich eine lange Note, höre ich ihr bewusst zu, so lange sie eben klingen muss, und das ist meist länger als ihr notierter Wert. Die Zeit hole ich wieder ein, indem ich die kurze Note kürzer spiele. Hier beginnt sich Musik zu formen, so wird sie flexibel, lebendig, sie beginnt zu «grooven». Begegne ich aber einer Pause, bin ich gehalten, sie zu «erlauschen». Dann funktioniert «late, but in time». Mit diesem genauen inneren Voraushorchen dessen, was da geschrieben steht, unterstütze ich den Komponisten, der wegen der Begrenztheit der Notationsmöglichkeit solche feinen Modifikationen in seiner Partitur nicht festhalten kann. Insofern kann und soll ich als Interpret dem Komponisten helfen.
Um dem Komponisten helfen zu können, musst du ja wissen, was er wollte, und zwar ganz genau. Wie kommst du zu diesem Wissen?
OLIVER SCHNYDER: Natürlich kann ich, wenn er nicht mehr da ist, nie genau wissen, was er wollte. Nicht in jedem Detail. Darum bleibt jede Interpretation eben immer nur eine Annäherung an des Komponisten Ideal. Trotzdem gehe ich bei der Arbeit am Stück davon aus, dass ich jede Intention des Komponisten erkenne. Das geht nicht anders, denn nur als überzeugter kann ich überzeugen. Auf dem Podium wird sich diese Sicherheit nochmals steigern. Es gibt nichts Schöneres für mich, als da oben am Klavier zu sitzen und «es» spielend zu wissen, wie in einer Eingebung. Dann, in der Stunde der Aufführung des Werks, das ich erarbeitet habe, gibt es nur eine, nur diese wahre Interpretation: Die, die in meinem Kopf, in meiner Seele vorausklingt und die mein Körper herausbringen muss. Wir Musiker und Musikerinnen nennen solche Momente Sternstunden. Leider kann man sie nicht herbeizwingen! Herbeibitten kann man sie aber schon, durch sorgfältige Arbeit vorher.
Die Arbeit vorher... Man sagt von dir, du spielest sehr natürlich, mit viel Leichtigkeit, technisch versiert. übst du oft und viel? Wie spielst du dich vor einem Konzert ein? Erzähl von deiner Technik.
OLIVER SCHNYDER: Ich bin ein disziplinierter «über». Ich übe jeden Tag, jedoch selten mehr als vier Stunden, was die Zeit am Klavier anbelangt. Das Erarbeiten des neuen Repertoires spielt sich bei mir vorwiegend im Kopf ab. Ich kann tun oder lassen, was ich will, Musik begleitet mich zu jeder Zeit, ob ich nun Fußball spiele, putze, meine Bodos zeichne oder Zeitung lese. Bei der Vorbereitung auf ein Konzert ist mir autogenes Training hilfreich; es kann unter Umständen das Einspielen ersetzen. Wenn alles im Kopf stimmt, laufen meine Finger wie geschmiert! Um das, was man im allgemeinen unter guter Technik versteht - geschmeidige Fingergeläufigkeit, tolle Oktaven, virtuose Doppelgriffe -, richtig zu trainieren, studiert man. Für mich gehört zur Technik obendrein, einen ganz bestimmten Klang, eine minimale Schattierung, die ich in mir schon kenne, produzieren zu können. Die Voraussetzung für eine gute Technik in meinem Sinn sitzt deshalb im Kopf und im Herzen. Ohne künstlerische Imagination fehlt die Voraussetzung für den Willen, den Kampf um die adäquate pianistische Voraussetzung zu gewinnen. So verbessere ich meine Technik mit jedem neuen Stück, da jede Musik für ihre Interpretation eine maßgeschneiderte Technik braucht. Diese Suche nach dem richtigen «Touch» lässt mich nicht los, bis ich die Lösung habe. Auch schon ist sie mir im Schlaf eingefallen.
Nehmen wir also an, du habest die Lösung gefunden und obendrein im Konzert eine Sternstunde erlebt. Kann so ein Glück einen Verriss in der Zeitung überdauern?
OLIVER SCHNYDER: Verriss einer Sternstunde? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Und das Glück nach einem gelungenen Konzert dauert in der Regel eh nur sehr kurz. Meistens ist es am Morgen danach schon wie weggeblasen. Wir Musiker sind oft Masochisten.
Wie gehst du mit Kritik um?
OLIVER SCHNYDER: Ich habe mir vorgenommen, mich über gute Kritiken zu freuen und über schlechte nicht aufzuregen. Das heißt aber nicht, dass mir das immer gelingt.
Einmal abgesehen von Kritik in der Zeitung, die schon aus Platzgründen oberflächlich bleiben muss, brauchst du Kritik?
OLIVER SCHNYDER: Ja, natürlich. Zwar kann mich Kritik nicht abbringen von meinem künstlerischen Weg, darauf weiterbringen aber sehr wohl. Ich hatte das Glück, in meiner Ausbildung immer die richtige Lehrerin, den richtigen Lehrer zur richtigen Zeit zu haben. Sie haben mich darin unterstützt, der zu werden, der ich jetzt bin. Und weil ich eben im Einklang bin mit mir selber, kann ich offen sein für Kritik. Ich nehme jede differenzierte Kritik ernst, nicht nur die bestätigende und auch nicht nur die von sogenannten Fachleuten! Wenn ich bei dir, meiner Zuhörerin, nicht ankomme, muss mich das interessieren. Es ist doch wie bei jeder Art von Dialog, ob ich nun zu dir spreche oder zu dir spiele, ich muss spannend, fordernd genug sein, damit du mir überhaupt zuhörst, und ich muss mich so klar ausdrücken, dass du mich nicht missverstehen kannst. Missverständnisse sind nie das Problem der Zuhörenden allein. Wenn allerdings jemandem meine musikalische Auffassung eines Stücks grundsätzlich nicht gefällt, dann haben wir eben Pech gehabt. Beide.
Denkst du denn, der mit der grundsätzlich andern Musikauffassung habe unrecht?
OLIVER SCHNYDER: Im konkreten Fall wahrscheinlich schon. Schliesslich bin ich im Moment der Aufführung davon überzeugt, das einzig Richtige zu machen. Wie schon ausgeführt, versuche ich beim Erarbeiten einer Interpretation den Komponisten so genau zu verstehen, dass ich ihn in jedem Detail unterstützen kann. Aber auch wenn mein Gefühl mir sagt, so, ganz genau so ist das gemeint, weiß ich, dass mein Verständnis des Komponisten letztlich immer nur eine Annäherung sein kann. Jede Interpretation, sei sie noch so überzeugend, bleibt Annäherung. Und genauso nähern sich die Kritiker außer dem, was sie mein Werkverständnis nennen, dem, was dem Komponisten vorschwebt, auch nur an, seien sie nun Zeitungskritiker oder kritisierende Musikkollegen, Freundinnen, Lehrer. Und jedem von ihnen unterläuft es manchmal, zu meinen, seine Einfühlung sei die einzig richtige.
Du machst auch Kammermusik. Suchst du dir als Partner Musikerinnen und Musiker aus, die ähnlich denken und empfinden wie du, oder kannst du mit allen?
OLIVER SCHNYDER: Ich spiele mit guten Musikerinnen und guten Musikern, denn was hat es für einen Sinn, mit jemandem zu spielen, der nicht differenziert? Oder der «es» technisch nicht bringt? Da fehlen die Voraussetzungen für das, was ich machen will. Wenn hingegen in der Kammermusik nicht alle von Anfang an ganz genau dasselbe wollen, so kann das außerordentlich spannend sein. Als Musikerpersönlichkeiten verschieden sein und verschieden bleiben, anfangs auch Verschiedenes wollen und sich dann zusammenzufinden in der Musik, das nimmt der Interpretation die Glätte, macht sie spannend und lebendig.
Es gibt die Meinung, ein Solist könne nicht Kammermusik machen und eine Kammermusikerin sei keine Solistin.
OLIVER SCHNYDER: Wenn überhaupt, stimmt wahrscheinlich eher das Zweite. Ein Kammermusiker, selbst der Primarius eines Streichquartetts, ist nie so ausgestellt vor dem Publikum wie ein Solist. Wenn er Kammermusiker geworden ist, weil er die Angst vor dem Alleinsein nicht in musikalische Energie umwandeln kann, dann stimmt der Satz für ihn. Wenn aber ein Solist nicht Kammermusik machen kann, heißt das doch schlicht, dass er (sich) nicht zuhören kann beim Spielen, dass er sich nicht zurücknehmen kann, wo es die Musik von ihm verlangt. Ich hoffe sehr, ich gehöre nicht zu diesen!
Was spielst du lieber?
OLIVER SCHNYDER: Ich weiß es nicht. Ich spiele das am liebsten, was ich gerade mache. Liebend gern würde ich zum Beispiel Beethovens Cello-Sonaten oder die Trios von Haydn spielen; aber die Veranstalter behaupten, Duette und auch Trios verkauften sich schlecht. Ich verstehe das nicht. Es gibt doch so wunderbare Literatur für diese Formationen!
Was bringt dir Kammermusik?
OLIVER SCHNYDER: Ich kann bei meinen Kammermusikkolleginnen und -kollegen «abkupfern»; ich lerne, vor allem von den Streichern, noch besser singen auf dem Klavier. Lass mich das technisch erklären: Eine Melodie ist an sich eine horizontale Bewegung. Der Streicher streicht horizontal, die Bläserin bläst horizontal. Eine Melodie liegt bei ihnen schon in der Bewegung der Klangerzeugung, während ich als Pianist Tasten niederdrücke, wieder und wieder, Ton um Ton. Ich muss die horizontale Linie zwischen diesen in einer vertikalen Bewegung entstandenen Tönen erst finden, damit auch meine Melodie singt. Für den Pianisten gilt deshalb ganz besonders, was Karajan zur Interpretation im allgemeinen sagte: Musik entstehe zwischen den Tönen, nämlich dann, wenn man zwischen den Tönen keine Zeit verliere. Indem ich dem, was zwischen den angeschlagenen Tönen geschieht, besondere Aufmerksamleit schenke, versuche ich, aus meinem «Schlaginstrument» ein Melodieinstrument zu machen. Wenn ich allein spiele, stelle ich mir oft eine weibliche Stimme vor, eben die von Ella Fitzgerald. Beim Kammermusikspiel inspirieren mich vor allem die StreicherInnen, auf meinem Instrument die «Gravitation aufzuheben».
Ich möchte nochmals zurückkommen auf deine von Leon Fleisher übernommene Methode, den Komponisten zu unterstützen: «Spiel spät, aber im Takt; lange Note lang, kurze Note kurz.» Sprichst du hier vom Unterschied zwischen leblosem Metrum und atmendem Rhythmus?
OLIVER SCHNYDER: Ja genau. Das Metrum ist in der zeitlichen Abfolge der Musik die Konstante, auch von einer Maschine herstellbar. Den Rang der künstlerischen Aussage erhält Musik erst, wenn Rhythmus diese Konstante so umspielt, dass Spannung entsteht, dass das Ganze zu pulsieren beginnt. Mittels Ueberdehnung der langen Note und Verkürzung der kurzen - oder manchmal, vor allem im romantischen Repertoire, auch umgekehrt - erziele ich das gewünschte Resultat. Mein Tun wird zwar vom Metrum geordnet; das Gefühl für die zeitliche Proportion im kleinsten Detail ist meines Erachtens aber für die Qualität einer Interpretation äußerst wichtig. Ohne diese rhythmische Sensibilität beginnt Musik nie zu «grooven», und auch die beste Klangsensibilität kommt nicht mehr zum Tragen. Ich glaube übrigens, dass es sich hier um eine Begabung handelt, die man pflegen, aber nicht grundsätzlich lernen kann. Man sagt ja auch, jemand habe Rhythmus im Blut. Rhythmus ist der älteste Parameter in der Musik und, wie ich denke, den beiden andern Parametern Melodik und Harmonik übergeordnet. Jede packende Interpretation wird zuallererst über den Rhythmus definiert.
Variierst du rhythmisch, wenn der Komponist eine Wiederholung verlangt, damit sich der Hörer nicht zweimal genau dasselbe anhören muss?
OLIVER SCHNYDER: Nun, ich überlege und erübe mir natürlich mehrere Möglichkeiten und entscheide mich schließlich für die, die für mich stimmt. Ich habe nicht immer das Bedürfnis, etwas zu variieren, nur weil es zweimal vorkommt. Wenn etwas wie die Exposition einer klassischen Sonate vom Komponisten wiederholt wird, so will er dem Hörer das vorgestellte Material des Stücks verdeutlichen. Würde ich nun diese Exposition das zweite Mal verschieden spielen, nähme ich die Absicht des Komponisten nicht ernst. Das entspricht nicht meinem künstlerischen Credo. Was ich allerdings schon versuche, ist, beim zweiten Mal noch schöner, noch besser, pointierter und noch artikulierter zu spielen. Aber nicht anders!
Ich gehe davon aus, dass du Emotionen wecken willst bei deinem Publikum. Wie machst du das? Überträgst du deine Gefühle auf jede einzelne Zuhörerin, jeden einzelnen Zuhörer oder evozierst du ihre Gefühle direkt?
OLIVER SCHNYDER: Die Gefühle, die Sinneseindrücke, die mich beim Erarbeiten eines Stücks leiten, möchte ich auch bei der Zuhörerin und dem Zuhörer wecken. Ich übersetze sie so in Musik, dass sie bei meiner Hörerin und meinem Hörer anklingen. Das ist ein hohes Ziel, ich weiß. Ich glaube aber zu wissen, mit welchen musikalischen Mitteln ich was bewirken kann. Wenn im Konzert der Funke dann wirklich überspringt von mir und «meiner» Musik auf mein Publikum, so verdanken wir das nicht nur meiner sorgfältigen Vorbereitung, sondern auch noch irgend etwas Anderem, Irrationalem, der magischen Chemie des Moments. Auf keinen Fall jedoch zelebriere ich meine eigenen Emotionen auf der Bühne! Keine Verrenkungen, keine Grimassen, keine vorgeführte Entrücktheit oder Exaltiertheit, obwohl nicht wenige Leute gerade daran Musikalität erkennen wollen. Im Gegenteil: Das Stück habe ich gelernt wie ein Schauspieler seine Rolle und kann nun beim Spiel auf dem Podium abrufen, was ich mir an emotionaler und pianistischer Choreographie zurechtgelegt habe. Ich kenne die Palette meiner musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten und spiele so, wie ich das Stück erarbeitet habe. Damit strukturiere ich auch meine eigenen Emotionen beim Spiel. Täte ich das nicht, gingen sie mit mir durch, und ich wäre als Einziger begeistert von dem, was ich erklingen lasse.
Dann erzählst du also eigentlich wie ein Schauspieler von dir und deinen Emotionen?
OLIVER SCHNYDER: Nicht von mir jetzt auf dem Podium, sondern von den Emotionen, die ich erlebt habe beim Kennenlernen und Erarbeiten eines Werks. Ich schlüpfe sozusagen ins Werk und transportiere es. Und wenn ich auf dem Podium einen guten Tag habe, vermählt sich diese im Grunde nüchterne Art der Wiedergabe, die bis ins kleinste Detail geplant und strukturiert ist, mit der magischen Chemie des Moments, ich kann es nicht anders sagen. Und der Funke springt! Und eine wunderbare Intensität stellt sich ein, beim Publikum wie bei mir.
Was bewegt dich im Leben? Gibt es Dinge, die dich zu Tränen rühren?
OLIVER SCHNYDER: Ja, stets da, wo das Ich der Verklärung weicht. Kindliche, vertrauensselige Unschuld. Oder kindliche Begeisterung für etwas. Wenn bei einem alten Menschen frühere Kräfte aufblitzen. Ganz besonders, wenn jemand sich aus grossem Leiden erhebt und gestärkt weitergeht.
Damit sind wir beim Menschen Oliver. Du wirkst auf mich warmherzig, gehst liebenswürdig und charmant mit deinen Mitmenschen um, und gleichzeitig zeichnest du die bösartigsten Monster (siehe Bodo-Männchen in der . Allerdings im Kleinformat. Wie ist er nun also, dieser Oliver Schnyder? Ist er ein Charmehaufen oder ein bösartiger Bodo?
OLIVER SCHNYDER: Beides wahrscheinlich. Dazu ist aber zu sagen, dass die Bodos nicht nur böse sind. Mitunter sind sie wirklich auch sehr nett. Ich denke, dass sich beim Menschen positive und negative Energien die Waage halten und dass beide Energien, auch die negative, sich für eine positive Sache nutzen und instrumentalisieren lassen. Das versuche ich in meiner Arbeit. Dabei will ich den Sinn fürs Wesentliche, d.h. für das, was mir als wesentlich erscheint, nicht verlieren.
Warum erzählst du nicht mehr von deinen Bodos, die ich so liebe, wie du weißt? Ist dir zum Beispiel schon aufgefallen, dass viele deiner monströsen Männchen und Weiblein zwar die ernst zu nehmende Absicht ausdrücken, Böses zu tun, dass sie aber - glücklicherweise für uns - sich nicht oder kaum fortbewegen können? Alle sind sie blockiert, haben keinen funktionstüchtigen Bewegungsapparat, wirken wie hingestellt und nicht abgeholt. Wo ist der Link zu dir?
OLIVER SCHNYDER: Jaja, schon wahr. Mit den Bodos mache ich mich über dunkle Abgründe meines Wesens lustig. Sie sind eine Art ironisierte Selbstbildnisse. Ich attestiere ihnen Bosheit, Aggressivität, und vulgär sind sie oft auch. Wie du richtig bemerkt hast, lasse ich sie aber nicht agieren, sondern parkiere sie in ihrem Zorn, lasse den Ohnmächtigen die Zunge raushängen. Ich mag ihre Rohheit. Wahrscheinlich sind sie ein Ventil, ein Abfallprodukt meines Strebens nach künstlerischer Noblesse. Aber es gibt doch auch liebe Bodos, verliebte, rührselige, traurige, intelligente, vorlaute, strebsame, oder?
Ja, die kenne ich auch. Sie sind eigentlich sehr menschlich, aber alle Außenseiter. Alle leben sie irgendwie in einer andern Welt, oder sie leben in unserer und benehmen sich daneben. Sie sind allein. Bist du allein?
OLIVER SCHNYDER: Jeder Mensch ist allein.
Zurück zu deinen negativen Energien: Du wollest sie in der Musik positiv nutzen. Wie das?
OLIVER SCHNYDER: Auch die Komponisten nutzen ihre negative Energie in ihrem Schaffen. Denken wir nur an die Abgründe in Schuberts Seele, die sich hinter dem Heiteren, Schönen, manchmal fast Süssen auftun. Oder an Beethoven und seine oft teuflische Energie, die er derb und bärbeißig daherkommen lässt, während er gleichzeitig über sich, den Tobenden, und uns, die Verschreckten, lacht. Hier bin ich sogar froh darum, selber echte Aggressionen in mir zu haben, zu wissen, was seelische Schmerzen sind. So kann ich bei solchen Stellen den Komponisten von innen heraus zu verstehen versuchen, und ich habe die bessere Chance, musikalische Echtheit herzustellen.
Warum, Oliver, bist du Pianist?
OLIVER SCHNYDER: Warum mögen Wildschweine Aprikosen?